Legislatives Theater

Die Herkunft

"Legislatives Theater" wurde von Augusto Boal und seinem Team entwickelt, als er von 1992 bis 1996 Stadtrat in Rio de Janeiro war. Es wurde zu einem einzigartiges Modellprojekt der Beteiligung der Bevölkerung an politischen Entscheidungsprozessen und ging folgendermaßen vor sich:

Die MitarbeiterInnen von Boal arbeiteten mit verschiedenen - vor allem gesellschaftlich marginalisierten - Gruppen und Communities, unterstützten und aktivierten sie dazu, Stücke zu entwickeln, in denen ihre spezischen Problemlagen und Wünsche nach Veränderung zum Ausdruck kamen.

Die Stücke wurden zunächst in kleinerem Rahmen, dann vor einer Vielzahl weiterer Mitglieder der Gruppe oder Community und schließlich auf den Straßen und Plätzen für die gesamte Bevölkerung interaktiv aufgeführt. Über jede Aufführung wurde ein Bericht angefertigt, in dem die Ideen, Wünsche und Interessen des Publikum, das in den Verlauf der Szene einstieg, um sie zu verändern, aufgeschrieben wurden. Diese Berichte kamen in das Stadtrat-Büro von Boal und wurden von JuristInnen dahingehend analysiert, ob sich daraus Anträge und Vorschläge für die Veränderung, die Neueinrichtung oder die Abschaffung eines Gesetzes ableiten ließen. In manchen Fällen wurden Veränderungen für die Bevölkerung auch durch direkte Interventionen oder durch Überzeugung des Bürgermeisters erreicht.

Insgesamt wurden 45 Gesetzesanträge auf diese Weise entwickelt und 14 von ihnen tatsächlich realisiert (vgl. Boal 1998).



Die Ziele


Legislatives Theater setzt sich zum Ziel ...

  • Bedürfnisse und Interessen von betroffenen Menschen in Gesetze zu transformieren,
  • jene Menschen zu erreichen und zu aktivieren, die üblicherweise am öffentlichen, politischen, und kulturellen Leben nur wenig partizipieren und sie auf diese Weise zur Artikulation ihrer Wünsche und Interessen und zum politischen Engagement zu ermutigen,
  • die sprachliche Ebene durch einen ganzheitlichen, körper- und handlungsorientierten Zugang zu ergänzen,
  • über das Zuschauen und die Identifikation mit den SchauspielerInnen eine Teilhabe aus einer schützenden Distanz zu ermöglichen,
  • Strukturen und Abläufe von Problemen und Konikten in ihrer Ganzheit sichtbar zu machen, um emotionale Hintergründe wahrzunehmen und zu beleuchten,
  • unterschiedliche Betroffenheiten kennen zu lernen, dadurch zur Klärung von Situationen beizutragen und gegenseitiges Verständnis zu fördern,
  • vielfältige Ideen und Vorschläge für Veränderungen und Lösungen im szenischen Probehandeln zu entdecken, auszuprobieren und durchzuspielen als Probe für das wirkliche (Zusammen-)Leben,
  • kreative und lustvolle Wege und Werkzeuge der Demokratisierung und politischen Beteiligung anzubieten und
  • einen möglichst unmittelbaren Kontakt und Dialog zwischen PolitikerInnen und BürgerInnen herzustellen.



Die Zielgruppen


Legislatives Theater richtet sich besonders an...

  • Menschen, die von einem sozialen Problem oder Konflikt unmittelbar betroffen sind, besonders an jene , die gesellschaftlich an den Rand gedrängt sind,
  • BewohnerInnen einer Großsiedlung, eines Gemeinwesens oder Stadtteils
  • GemeinwesenarbeiterInnen und Bürgerinitiativen
  • Mitglieder von Kinder- bzw. Jugendparlamenten, Ausländerbeiräten und ähnlichen demokratischen Einrichtungen
  • Unternehmen und Organisationen, die in einem partizipativen Prozess neue ‚Spielregeln' entwickeln wollen
  • gesetzgebende und ausführende Körperschaften
  • politisch Verantwortliche und EntscheidungsträgerInnen, die an Bürgerbeteiligung interessiert sind

 


Der Prozess


Legislatives Theater erstreckt sich in der regel über folgende Phasen:

Phase I: Vorbereitung Recherche

  • Kontaktaufnahme und Vernetzung mit einschlägigen Einrichtungen und Initiativen
  • Recherchen in Form von aktivierenden ExpertInnen- und Betroffenenbefragungen


Phase II: Stückentwicklung und Proben

  • Spezielle Workshops mit Betroffenen
  • Szenen und Stückentwicklung zu den relevanten Problemen und Anliegen
  • Proben und ästhetische Gestaltung der Szenen und Stücke

Phase III: Interaktive Aufführungen und Dokumentation

  • Interaktive Aufführungen auf Straßen, Plätzen, in Gasthäusern, Gemeindezentren, Betrieben u.ä.m..
  • Protokollierung und Dokumentation aller Einstiege und Ideen
  • Formulierung oder Akklamierung von Gesetzestexten durch das Publikum

Phase IV: Auswertung und politische Initiative

  • Auswertung und Aufbereitung der Publikums
  • Einstiege durch die SpielerInnen, die SpielleiterInnen und JuristInnen
  • Formulierung und Einbringen von Gesetzesanträgen in die jeweiligen Körperschaften


Die Anwendungsfelder,Themen und Bereiche

"Legislatives Theater" eignet sich gut in der Kinder und Jugendbeteiligung: Durch "Legislatives Theater" könnten junge Menschen selbst zu Wort kommen, Probleme und Wünsche artikulieren, im Gegensatz zu der in Jugendarbeit oft verbreiteten pateranalistischen Haltung gegenüber Jugendlichen. Kinder und Jugendliche erleben dadurch unmittelbar, was Beteiligung heißt. In der Schule könnte es dadurch zur verstärkten Zusammenarbeit von LehrerInnen, Eltern und SchülerInnen kommen.

Eine Reihe von Anwendungsmöglichkeiten finden sich in der BürgerInnenbeteiligung und Stadtentwicklung. Interaktive Theaterformen können bei BürgerInnenversammlungen zum Zuge kommen. Legislatives Theater wäre besonders sinnvoll bei Stadtentwicklungsprojekten, zumal es besonders für Gruppen neue Artikulationsmöglichkeiten schafft, die sich sonst kaum zu Wort melden (können). Theater kann in diesen Bereichen zu Teilhabe aktivieren und zu einem Mittel demokratischer Gestaltung werden.

Interaktive Theaterformen wie das Forum- und das Legislative Theater können für die Bearbeitung und Bewältigung von Problemen und Konflikten im Gemeinwesen, in Siedlungen, in Quartieren/ Stadtteilen und öffentlichen Plätzen zur Anwendung kommen. Sie eignen sich als Konfliktmoderation, um z.B. verhärtete Positionen aufzuweichen: die Positionen und Betroffenheiten werden durch die Darstellung konkret-begreifbar - gleichzeitig wird der Blick aufs Ganze eröffnet. Ein Prozess für das Aushandeln von Spielregeln für das Zusammen-Leben wird aktiviert, unterstützt und begleitet.

Ähnliches gilt für Unternehmen und Organisationen: Auch hier eigenen sich interaktive bzw. Legislative Theaterformen als Werkzeug für partizipativ und kommunikativ gestaltete Organisationsentwicklungs- und Veränderungsprozesse.



Die Rahmenbedingungen


Damit "Legislatives Theater" als Instrument der politischen Beteiligung erfolgreich sein kann, müssen wesentliche Rahmenbedingungen erfüllt sein: Damit es wirklichen Dialog mit den BürgerInnen gibt, muss es greifbare und nachvollziehbare Umsetzungsmöglichkeiten geben, was den Willen zum Öffnen und Teilens des Machtbereichs seitens der Politik und der Verwaltung voraussetzt. Die Verknüpfung mit Entscheidungsträgern ist essentiell für einen effektiven Prozess. Probleme dürfen dabei aber nicht auf die BürgerInnen abgewälzt werden. d.h. die PolitikerInnen können nicht aus ihrer politischen Verantwortung gänzlich entlassen werden. Daher ist enge Zusammenarbeit von PolitikerInnen und SchauspielerInnen wichtig.
Zudem ist es notwendig, dass die Methode frühzeitig eingesetzt wird. Die Methode darf nicht als "Feuerwehr" missverstanden werden und erst bei einer Eskalation einsetzen.

 

Literaturtipps

Baumann, Till
: Von der Politisierung des Theaters zur Theatralisierung der Politik. Theater der Unterdrückten im Rio de Janeiro der 90er Jahre. Ibidem-Verlag, Stuttgart 2001.

Boal, Augusto: Legislative Theatre. Using Performance to make Politics, London and New York 1998.

Wrentschur, Michael: Legislatives Theater als Werkzeug für BürgerInnenbeteiligung und Stadtentwicklung. Vorschläge und Dokumentation der Veranstaltungen mit Augusto Boal in Graz, Graz 2001.

Wrentschur, Michael (gem. mit Mazzini, R./ Ruckerbauer, A./ Vieregg, M): Transforming Desire into Law: Legislative Theatre as a Tool for Transitive Democracy with Migrants and Homeless People in: (Cronin, B./ Roth, S./ Wrentschur, M., Eds.): Training Manual for Theatre Work in Social Fields. Frankfurt am Main 2005, S.128-184.



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